Mein Inneres Kind saß bereits im Sessel und wartete, als ich bei ihm auftauchte. Mit einer Hand hielt es seinen Kuschelhasen und mit der anderen das offene Buch, aus dem es das letzte Mal die Geschichte mit dem einsamen Mann vorgelesen hatte. Erinnerst du dich noch? Der grummelige Mann, der in einen tiefen Heilungsschlaf fiel, nachdem er unerwartet Besuch von einem kleinen Kind bekam, das wie aus dem Nichts auftauchte (klicke hier, um die Geschichte zu lesen).

„Nun geht die Geschichte weiter“, verkündete mein Inneres Kind feierlich und schaute ganz konzentriert in das Buch, als wollte es keine Sekunde länger warten.

„Wir kehren zu dem erschöpften Mann zurück, der immer noch in seinem Heilungsschlaf versunken war.

Eingehüllt in Licht, bewachte ihn der Engel über die ganze Zeit und ließ ihn und seine Geschichte heilen. Nun regte sich der Mann langsam wieder. Er wurde nicht wach, tauchte nur aus seinem Tiefschlaf etwas auf und trat wieder in den Traum ein, den er vorher hatte. Er sah wieder die schöne Frau vor sich, sie hielt immer noch das Baby in ihren Armen. Die wundervollste Frau, die er je gesehen hatte, seine geliebte Mutter. Sie wiegte das Baby immer noch, mit einer Liebe und Hingabe, zu der nur eine Mutter fähig ist.

Dem Mann tat es unendlich gut einfach zuzuschauen, den Anblick seiner Mutter zu genießen, ihre Liebe zu spüren. Er fühlte sich dabei, als wäre er das geliebte und behütete Baby in ihren Armen. Er spürte, wie ihre Liebe sein hungerndes Herz nährte.

Eine ganze Zeit lang geschah nichts.

Dann fing das Baby an zu wachsen, größer und älter zu werden. Der Mann konnte zuschauen, wie es allmählich zu einem Kleinkind wurde, wohlgenährt und quicklebendig. Die Mutter stellte es vor sich auf den Boden und schaute den Mann zum ersten Mal an. Wortlos und unendlich liebevoll ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen. Am liebsten wäre der Mann für alle Ewigkeiten in diesem Blick versunken, doch seine Aufmerksamkeit wurde von dem kleinen Kind angezogen, das nun gradewegs auf ihn zulief. Der Mann fühlte eine seltsame Aufregung. „Was wird das?“, fragte er sich. Sein Herz schlug stärker, sein Atem wurde schneller, während ihm das kleine Kind völlig unbekümmert immer näher kam.

Der Mann war erstaunt, denn mit jedem Schritt wechselte das Alter des Kindes.

Mal war es wie 1 Jahr alt, mal sah es nach 3 Jahren aus. Es wurde abwechselnd älter und wieder jünger. Und inzwischen stand es direkt vor ihm. Er verspürte in diesem Moment eine so überwältigende Liebeswelle, dass er auf die Knie fiel und nicht anders konnte, als das kleine Kind in seine Armen zu schließen. So hielt er es einfach, eng umschlungen. Der warme Strom der Liebe floss dabei tief in sein Inneres, durch ihn hindurch. Er füllte ihn aus und legte sich dabei, wie ein schützender, heilender Mantel um ihn und um das Kind.

Die Zeit stand eine ganze Ewigkeit lang still. Erst nach einer Weile tauchte der Mann langsam aus diesem alles durchdringenden Strom der Liebe auf. Er spürte das Kind in seinen Armen und drückte es noch fester an sich. Seine Mutter sah er nicht mehr. Langsam drangen Geräusche zu ihm durch. Ein hupendes Auto in der Ferne, ein bellender Hund. „Wo bin ich?“ fragte er sich schlaftrunken und versuchte, seine Augen zu öffnen. Es kam ihm vor, als würde er grade aus einem tausendjährigen Schlaf erwachen.

Es dämmerte ihm langsam, dass er bei sich zu Hause in seinem Sessel saß.

Vor dem dreckigen Fenster in seinem Zimmer. Draußen war es noch etwas dunkel, aber die ersten Sonnenstrahlen kündigten sich bereits an. Er war wohl im Sessel eingeschlafen, dachte er und wollte aufstehen. Doch dann stockte ihm der Atem für einen Moment. Was hatte er auf seinem Schoß? Es war weich und so wohlig warm. Er schaute im Licht der Morgendämmerung genauer hin. An den Kleidern erkannte er langsam das Kind, das er kürzlich kennenlernte. Das Kind, das vor seinem Fenster auftauchte und dann plötzlich in seinem Haus stand. Jetzt schlief es friedlich in seinen Armen, wie ein Engel, und atmete ganz ruhig. „Was ist geschehen?“, fragte sich der Mann. Er war verwundert, alles war so seltsam. Ein Lichtstrahl drang durch das Fenster, er streichelte sanft über das Gesicht des schlafenden Kindes. Da dachte der Mann: „Moment, das ist doch das Kind aus meinem Traum eben!“ Er schaute noch genauer hin und ihm blieb fast das Herz stehen. Es wurde ihm plötzlich klar: „Das ist nicht irgendein Kind aus irgendeinem Traum. Das bin ich!“. Er erkannte sein eigenes Kindergesicht. Das Gesicht des kleinen Jungen, das er schon längst vergessen hatte. Er saß noch eine ganze Weile regungslos da und dachte nach. Er versuchte sich das Ganze zu erklären, aber es war ihm nicht möglich.

Langsam bewegte sich das Kind in seinem Schoß

und es dauerte nicht lange, da schlug es seine Augen auf, lächelte breit und glücklich und sprang vom Schoß des Mannes. „So, jetzt wohne ich bei dir! Guten Morgen. Jetzt habe ich ein Zuhause… Was gibt es zum Frühstück?“ sprudelte es los und schaute den Mann fröhlich an. „Ich mag ein Trost-Brot.“ Da musste der Mann schmunzeln. So hatte er als Kind das Toastbrot immer genannt. Am merkwürdigsten kam es dem Mann aber vor, dass er fröhlich war. Seit wann war er das nicht mehr! Ja, er hatte Lust auf ein Frühstück mit Trost-Brot und ganz viel Erdbeermarmelade. Da fiel ihm sogar ein, dass er letztens aus Versehen Kinder-Joghurt gekauft hatte (was hatte er sich über sich selbst geärgert!)

Ab diesem Tag war der Mann nie mehr so traurig und grummelig, wie vorher. Und nie mehr einsam. Und wenn er wieder mal in seinem Sessel vorm Fenster saß, schaute er sich mit Freude das bunte Leben und all die Menschen da draußen an. Die Scheiben seines Fensters glänzten und die Straße dahinter war lebendig und farbenfroh.

Manchmal dachte er an diesen bestimmten Tag zurück, der sein ganzes Leben verändert hat.

„Ja, das war der glückliche Tag, an dem ich wieder zu dir zurückkommen konnte!“, pflegte dann sein kleiner Mitbewohner zu sagen, der seitdem nicht mehr von seiner Seite gewichen ist. Inzwischen hat der Mann verstanden, was an diesem Tag passiert ist. Er hatte das Glück, dass sein Inneres Kind bei ihm aufgetaucht ist, zu einem Zeitpunkt, an dem sein Leben keinen Sinn zu machen schien. Dieses wundervolle Kind hat für ihn Türen aufgemacht. Eine Tür zur Heilung seiner Geschichte und eine Tür zum Leben.

Mein Inneres Kind klappte das Buch zu, setzte seinen Stoffhasen darauf und schaute mich mit seinen großen Augen an. „Danke, dass ich auch zurückkommen konnte.“ Mir schossen die Tränen vor Dankbarkeit und Berührtsein in die Augen während ich leise sagte: „Nein, du wundervolles kleines Mädchen, ich habe zu danken! Und ich danke dir auch für diese wunderschöne Geschichte!“

Dir danke ich, dass du dabei warst und diese Geschichte mit mir gemeinsam erlebt hast. 

Herzlichst,