Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie alt ich in diesem Sommer war.
Grundschulalter vielleicht, vielleicht auch älter. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie es überhaupt dazu kam, dass ich an diesem bestimmten Tag in das ca. 200 m von meinem Wohnhaus entfernte Kinderheim ging. Ich meine mich zu erinnern, dass eine Freundin von mir dort jemanden von den Kinderpflegern kannte. Auf jeden Fall war ich dort und ich werde diese Erfahrung nie vergessen. Ich liebte Kinder damals schon über alles. Ich wollte sie erleben, mit ihnen sein, bei ihrer Versorgung helfen. Das Personal freute sich sicherlich über helfende Hände, denn es waren viel zu viele Kinder auf viel zu wenige Kinderpflegerinnen. Sie waren überfordert, würde ich aus heutiger Sicht sagen und mit heutigen Augen möchte ich eigentlich gar nicht „sehen“, wie die Verhältnisse dort wirklich waren. Aber damals hatte ich einen anderen Blick. Ich habe nur die Kinder gesehen und war erfüllt von der Möglichkeit bei ihnen zu sein. Ja, ich war verrückt nach Kindern. Ich habe geholfen, sie in ihr Bettchen zu legen und wieder herauszuholen, sie aufs Töpfchen zu setzen, sie zu füttern. Es waren viele kleine Kinder und es gab viel Geschrei.
An diesem ersten Tag, als es Mittagessen gab, wurde mir gesagt, da gäbe es noch ein krankes Mädchen, das seit Tagen nicht essen will. Ich könnte versuchen es zu füttern, aber wahrscheinlich werde ich keinen Erfolg haben.
So ging ich in das Zimmer mit einem Teller Brei in der Hand.
Es war ein sehr kleines, sehr karg eingerichtetes Zimmer, ich glaube, es stand nur ein Metall-Gitterbett darin. Aus der Tür heraus schaute ich in das Zimmer hinein, Richtung Bett. Und ich blickte direkt in zwei riesige, dunkelbraune, traurige Augen. Ich sehe diese Augen jetzt noch vor mir. Sie haben sich für immer in mein Herz eingraviert.
Ich ging näher ans Bett. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was ich sah. Außer dem Kopf war von dem ca. 3 Jahre alten Mädchen nichts zu sehen. Der ganze restliche Körper war eingewickelt. In ein weißes, nasses Bettlaken. Es sollte das Fieber senken.

Wie eine Mumie lag es da und schaute mich nur an.
Ich war erschüttert. Konnte kaum fassen, was ich sah. Gleichzeitig wurde mein Herz regelrecht überflutet von Liebe. Meine Liebe und mein Mitgefühl haben mich alles um mich herum vergessen lassen. Ich setzte mich ans Bett, redete zu dem Mädchen. Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß, was ich sagte. Ich weiß nicht, was in dieser Zeit wirklich passiert ist. Ich weiß nur, dass die Pfleger sehr erstaunt waren als ich rauskam, dass das Mädchen zum ersten Mal wieder gegessen hatte. Wahrscheinlich haben sich unsere Herzen berührt…
Am nächsten Tag ging ich wieder hin. Das Zimmer war jedoch leer, denn das Mädchen – nennen wir sie Maria – war wieder gesund. Und ab da war ich da, so oft ich nur konnte. Ich habe erfahren, dass Maria an den Wochenenden von ihrer Mutter meistens nicht abgeholt wurde. Eigentlich war es ein Heim, in dem die Kinder am Wochenende nach Hause konnten. Wenn sie jemand abholte… Also schaute ich, dass ich die Wochenenden bei meiner kleinen Freundin verbrachte, zumindest so oft ich konnte.
Natürlich habe ich meine Mutter gebeten, dass wir Maria zu uns nehmen. Dass sie dem nicht zustimmte, habe ich damals null verstanden. Ich stand wie angewurzelt da und habe nur gedacht „Das kann nicht sein, das kann ich nicht glauben!“. Heute verstehe ich es natürlich…
Also besuchte ich weiterhin meine kleine Freundin mit den dunklen Augen…

Ich durfte sogar das Heimgelände mit Maria verlassen.
Nein, es war sicher nicht „legal“, aber Gott sei Dank kümmerte sich darum niemand. Wir gingen spazieren oder zu einer nahegelegenen Bäckerei und aßen Kuchen. Von meinem Taschengeld kaufte ich Maria Hausschuhe. Anfangs war das Mädchen schüchtern, still und ziemlich ernst. Aber mit der Zeit öffnete es sich immer mehr, wurde lockerer und fröhlicher. Sie hatte einen oft traurigen, aber doch so wundervoll sanften Blick. So liebevoll, warm, samtig. Ihre großen, tiefen Augen haben mich ihr Herz und ihre Seele spüren lassen. Ich liebte sie.
Nach einer Zeit erkannte sie meine Schritte, sobald ich das Treppenhaus des Heimes betrat und rannte mir freudig entgegen. Es war eine schöne Zeit mit Maria, die ich für immer in meinem Herzen trage. Es war alles auch etwas traurig, sicher… Ihr Schicksal hat mein Herz oft sehr schwer gestimmt. Aber unsere Begegnungen, die Liebe füreinander, die gemeinsamen Zeiten – das war alles wunderschön und so wertvoll.
Eines Tages kam ich und Maria war nicht mehr da. Sie wurde von ihrer Mutter aus dem Heim genommen, hieß es. Ich habe nie wieder etwas von ihr erfahren.
Eine ungewöhnliche Freundschaft endete damit.
Aber etwas Wertvolles ist geblieben, das sich in mein Gedächtnis, in mein Herz und in mein Bewusstsein eingeprägt hat. Es ist die Erfahrung, welche Macht die Liebe hat. Was liebevolle Zuwendung bewirken kann.
Denn die Liebe war es, die Maria damals heilte. Wahrscheinlich nicht nur ihren kranken Körper, sondern vor allem ihr trauriges, einsames Herz, das sich so sehr nach Nähe und Zuwendung sehnte. Natürlich war es die Sehnsucht nach der Mama, die sie quälte. Diese Sehnsucht konnte ich nicht stillen oder mildern. Aber die Liebe und die Zuwendung, die ich ihr geben konnte, haben ihr geholfen, das Leben (die Nahrung) wieder anzunehmen, sich wieder zu öffnen und im Innen wie im Außen wieder aufzustehen. Und ich bin heute noch so unendlich dankbar, dass ich für sie da sein konnte. Dass das Schicksal uns zusammenführte. Dass ich ein trauriges Kinderherz erreichen und erleichtern konnte.

Mit der gleichen Liebe und Leidenschaft wende ich mich heute den Inneren Kindern zu.
Egal in welcher Verfassung sie mir begegnen, mein Herz weiß, was zu tun ist. Es fängt einfach jedes Kinderherz in seiner Liebe auf. Die Liebe hat damals der kleinen Maria geholfen, gesund zu werden. Wieder Kraft und Lebensmut zu gewinnen. So erwachen und heilen auch die Inneren Kinder, wenn sie gesehen und geliebt werden. Und ich freue mich für jedes erwachte Innere Kind, wie damals für Maria. Damals war es „nur“ ein Mädchen. Heute sind es viele Innere Kinder, die ich im Laufe der letzten zehn Jahre durch Liebe heilen sah. Sie wurden mit Liebe berührt, durch Liebe neu zum Leben erweckt. Wie groß meine Freude immer ist, wenn ich diese Inneren Kinder sehe! Ja, ich sehe sie. Ziemlich konkret. Und sie reden mit mir.
Ich habe an der Stelle wohl eine Aufgabe, eine besondere Leidenschaft und vielleicht auch besondere Qualitäten. Aber auch ohne all das ist es jedem möglich, Liebe zu geben, mit Liebe zu heilen. Du musst es nicht gleich zu deinem Beruf machen, wie ich es tat. Ich möchte dich nur bitten: Sei für dein Inneres Kind zumindest ab und zu da. Wende dich ihm immer wieder zu. Setze dich dabei nicht unter Druck. Liebe es einfach, so gut du es gerade kannst. Jedes Bisschen ist mehr als nichts. Jedes Kind hat Liebe verdient. Jedes Kind braucht Liebe, wie Luft zum Atmen. Auch dein Inneres Kind. Du musst dafür nicht viel wissen, nichts Besonderes können. Sage deinem Innern Kind einfach ab und zu: „Ich liebe dich“. Sage es einfach so in dich hinein. Es wird ankommen. Jedes Mal ein bisschen mehr.
Liebe heilt. Liebe bewirkt Wunder. Liebe erweckt zum Leben. Ich habe es damals erlebt und gesehen. Und ich erlebe und sehe es heute immer wieder.
Und wenn du möchtest, helfe ich dir dabei, dein Inneres Kind (immer mehr) zu lieben.
In Liebe,
Dein neuer Blog berührt mich tief. Nicht nur, weil es eine berührende Geschichte ist, sondern vor allem, weil ich in jedem Wort deine Liebe spüre. Ja, du liebst alle Menschen so wie die kleine Maria und dein Herz weiß immer, was zu tun ist. Ich kenne dich jetzt seit 4 Jahren und deine grenzenlose Liebe zu erfahren, hat schon so viel in mir geheilt. Ich danke dir … für deine Arbeit … für deinen wunderschönen Blog … dafür, dass du so bist, wie du bist ❤
Danke liebe Samelia, für deine lieben Worte. Was die Geschichte angeht, die berührt mich nach so vielen Jahren selbst auch immer noch…